“Wir passieren das gatehouse mit einem übermütigen und fast schottisch anmutendem Rrrrroooaaarrr, was die Garde mit einem strengen Blick quittiert. Ich versuche mich an einem königlichen Winken. „Man muss die Hand dabei so bewegen, als drehe man eine Glühbirne aus“, korrigiert der Earl und macht es mir vor. Am Ende der Allee biegen wir in den kleinen Ort Forfar ab und fahren weiter in die weite, sanft geschwungene Hügellandschaft von Strathmore. Bei gutem Wetter – so wie heute – kann man nach Norden bis Aberdeen und nach Westen bis zu den Ausläufern der Highlands sehen. Wohin der Blick auch fällt: nur Felder, Äcker und Wiesen. All dies ist das Land des Earls. 6680 Hektar, um genau zu sein, darunter 720 Hektar Wald. Die Verwaltung der Landwirtschaft, der Jagdgründe und des Forstes ist eine Menge Verantwortung und eine Menge Arbeit. Sam hat eine große Aufgabe vor sich. Und große Pläne. Er träumt davon, das Grundstück und die lange Zufahrt für ein Automobil- und Motorsport-Festival zu nutzen. Am liebsten würde er eine eigene Rallye-Etappe vor der Tür seines Schlosses anlegen, dabei das Motorengeheul bis in die entferntesten Schlafgemächer dringen lassen und jeden Winkel des Schlosses mit seinem kräftigen Echo füllen. Am Abend sitzen wir zusammen im großen drawing room, einem umwerfend imposanten, roséfarbenen Raum mit einer gewölbeartigen Decke, die mit elegantem weißen Stuck besetzt ist. Von den Wänden blicken die Ahnen des Earls of Strathmore and Kinghorne auf uns herab. In der Mitte stehen zwei lange Diwane vor einem offenen Kamin, in dem ein großer Scheit Holz brennt. Davor links und rechts zwei winzige Stühle. „Die gehörten Queen Elizabeth und Princess Margaret, als sie Kinder waren“, erzählt der Earl leise. Als die Königinmutter 2002 verstarb, lief der damals fünfzehnjährige Simon Patrick mit gesenktem Haupt im Gleichschritt mit der königlichen Familie hinter dem Sarg her.
Auf den Kommoden und Anrichten blitzen gerahmte Bilder der Familie und Fotografien der berühmten Verwandtschaft. Fotos von Prince Charles, Duke of Rothesay, und Camilla, Duchess of Cornwall, in der Auffahrt nach Glamis, die Queen Mother – seine Urgroßtante – und King George V. neben seinem Urgroßvater. Das Bild muss einige Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs aufgenommen worden sein. Ein anderes zeigt seinen Urgroßvater, den Onkel der Queen, als Soldat des schottischen Infanterieregiments Black Watch. Glamis Castle war zur Zeit des Krieges ein Lazarett, in dem die junge Elizabeth, die spätere Königinmutter, hingebungsvoll die Verwundeten pflegte. Mit dem Niederlegen ihres Brautstraußes vor dem Grab des Unbekannten Britischen Soldaten prägte sie eine Tradition im Königreich. Zahlreiche Mitglieder der Familie Bowes Lyon fielen dem Krieg zum Opfer. So vieles eint unser Schicksal, so vieles entzweit uns. „Aye!“, sagt der Earl, und mehr muss er dazu auch nicht sagen.”
Text erschienen in Christophorus 377, Ausgabe 01/2016, Delius Klasing Verlag