“Es gibt dieses berühmte Foto aus New York, aufgenommen im Jahr 1900. Unzählige Pferdekutschen und ein einzelnes Auto bewegen sich darauf im Schritttempo über die Fifth Avenue. 1913 wurde die Straße noch einmal fotografiert. Und diesmal wimmelt es dort von Autos – nur eine einzige Pferdekutsche ist noch zu sehen.
Daniel Wiegand führt die Bilder gerne an, wenn er über den Wandel spricht, der uns be- vorsteht. Schenkt man seiner Vision Glauben, dann befinden wir uns gerade an der Schwelle zu einer neuen Mobilitätsrevolution: dem Abhe- ben des Menschen in die Dritte Dimension. Der 32jährige Raumfahrt-Ingenieur und passionier- te Segelflieger ist überzeugt, dass wir schon in zwanzig Jahren mehr als 30 Prozent unserer täglichen Kurzstrecken in der Luft zurücklegen werden. Etwa so wie im Film „Das fünfte Element“ von Regisseur Luc Besson.
Was wie Science Fiction klingt, war die Basis für eine Geschäftsidee von Wiegand und drei seiner Kommilitonen von der Technischen Universität München. Sie machten mit ihrer Hilfe in nur drei Jahren über 100 Millionen Dollar Wagniskapital locker und beschäftigen im oberbayerischen Weßling heute über 200 Mitarbeiter. 2028 sollen sogar 10000 Menschen für ihr Start-up tätig sein – das Lilium heißt, abgeleitet vom Namen des Flugpioniers Otto Lilienthal.
Das Projekt ist eines von weltweit etwa 60 Vorhaben, die gerade an der Entwicklung von EVTOLs (Electrical Vertical Take-Off and Lan- ding) arbeiten: elektrisch angetriebenen, autonom fliegenden kleinen Senkrechtstartern für den Personentransport. Volocopter aus Bruchsal entwickelt ein solches Flugtaxi, chinesische Techfirmen wie Ehang, aber auch die VW-Tochter Italdesign zusammen mit Airbus. Sie alle träumen von einer Welt ohne Verkehrsstaus, frei von Lärm und Schadstoffen. Die techni- schen Konzepte reichen von drohnenähnlichen Multicoptern bis hin zu Modellen mit Schwenkrotoren und Tragflügelflächen.
So wie der Lilium-Jet aus Bayern. Eine Zulassung hat freilich bis heute noch kein einziges der Konzepte. Trotzdem sieht das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart die 3-D-Mobilität bereits auf dem Höhepunkt des Hype Cycles der öffentlichen Wahrnehmung. Und Porsche Consulting prognostiziert in einer Studie, dass im Jahr 2035 mit Passagierdrohnen Geschäfte mit einem Umsatzvolumen von rund 32 Milliarden Dollar gemacht werden. Es geht also um viel, viel Geld.
Entsprechend angespannt ist die Stimmung auf dem Flugplatz Oberpfaffenhofen. Anfang 2017 bewies Wiegands Team hier mit dem ersten unbemannten Flug eines Zweisitzers, dass ihre Technik funktioniert. Nun steht Lilium unmittelbar vor der Bekanntgabe des nächsten großen Mei- lensteins – der Demonstration eines fünfsitzigen Prototyps. Die Versprechen sind ambitioniert: Der Flieger soll mit einem Spitzentempo von 300 km/h im Stadtverkehr fünfmal schneller wie ein Auto sein – bei ähnlichem Energieverbrauch. Ein Passagier würde so in acht Minuten vom Münchner Flughafen in die Innenstadt gelangen. Oder noch weiter: Die Reich- weite soll 300 Kilometer betragen. Weitere Details sind noch geheim. Aber schon in zwei Jahren soll ein On-demand-Flugservice starten und innerhalb eines Jahrzehnts den Verkehr in Megacitys wie Los Angeles oder Singapur revolutionieren. Ja, Wiegand hat sich viel vorgenommen.”
Auszug aus einem Beitrag für das Handelsmagazin Edison 04/2018.